A.-L. Head-König u.a. (Hg.): Kollektive Weiden und Wälder

Cover
Titel
Kollektive Weiden und Wälder. Ökonomie, Partiziation, Nachhaltigkeit


Herausgeber
Head-König, Anne-Lise; Lorenzetti, Luigi; Stuber, Martin; Wunderli, Rahel
Reihe
Geschichte der Alpen (24)
Erschienen
Zürich 2019: Chronos Verlag
Anzahl Seiten
296 S.
von
Salome Egloff, Historisches Seminar, Universität Zürich

Die Artikel des vorliegenden Sammelbandes gehen aus einer Tagung hervor, die 2018 in Altdorf stattfand und sich den transdisziplinären Austausch über kollektiv genutzte Ressourcen im Alpenraum zum Ziel setzte.1 Die Tagung und der Sammelband sind vor einem spezifischen forschungsgeschichtlichen Hintergrund zu verstehen: Die ältere Forschung zu kollektiven Gütern war insbesondere im deutschsprachigen Raum vom Interesse an der Agrarmodernisierung im 18. und 19. Jahrhundert getragen und widmete sich deshalb vornehmlich den Allmenden im Flachland, die im 19. Jahrhundert zu grossen Teilen privatisiert wurden. Die Arbeiten Elinor Ostroms2 rückten jedoch die Frage nach den Gründen für die Persistenz von Gemeingütern vermehrt in den Blick der Forschung, und damit auch den Alpenraum, wo die kollektive Bewirtschaftung von Alpen und Wäldern bis in die Gegenwart praktiziert wird. Mit dem vorliegenden Band soll zu einer vermehrten Beschäftigung mit diesen alpinen Gemeingütern angeregt und die Gründe und Bedingungen für ihren Fortbestand vom Mittelalter bis in die Gegenwart beleuchtet werden.

In konzeptioneller Hinsicht stehen drei Aspekte kollektiver Ressourcenverwaltung im Zentrum des Bandes, nämlich Partizipation, Ökonomie und Nachhaltigkeit. Die Autoren beleuchten anhand von verschiedenen Untersuchungsgebieten aus dem schweizerischen, österreichischen, französischen und italienischen Alpenraum, wie kollektive Körperschaften3 im Laufe der Jahrhunderte zwischen diesen drei Prinzipien ein Gleichgewicht austarierten. Das Nebeneinander von verschiedenen Regionalstudien, die jeweils ähnliche Fragestellungen behandeln, fordert dem Leser einiges an Konzentrationsvermögen ab – gleichzeitig liegt darin aber auch eine zentrale Stärke des Bandes. Durch den direkten Vergleich der Entwicklung verschiedener Regionen werden interessante Parallelen und Analogien, aber auch Divergenzen erkennbar. Einige der Verbindungslinien seien im Folgenden nachgezeichnet.

Wie die Trias von Ökonomie, Partizipation und Nachhaltigkeit nahelegt, verfolgten unterschiedliche Akteure und Institutionen multiple sowie teilweise antagonistische Interessen bei der Nutzung kollektiver Ressourcen. Die widerstreitenden Ansprüche zwischen Korporationen untereinander, zwischen Korporationen und Territorialherren und zwischen Gruppen innerhalb der Nutzungsverbände führten im Spätmittelalter zur Abgrenzung sowie schriftlichen Fixierung von Nutzungsrechten. So zeigt Fabrice Mouthon am Beispiel der französischen Alpen, wie Pfarrgemeinden zwischen dem 13. und 15. Jahrhundert in zähen Aushandlungsprozessen mit ihren Territorialherren auf eine rechtliche Legitimierung ihrer Ansprüche drangen. Im Tirol zog der Antagonismus zwischen Nutzungsverbänden und Territorialherr die Unterteilung der Wälder in «gemaine» Wälder, die den Bauern zur Deckung ihres Holzbedarfs zur Verfügung standen, und «Amtswälder», deren Holz für die landesfürstlichen Bergwerke und Salinen verwendet wurde, nach sich (Gerhard Siegl). Zwei weitere Faktoren, die den Druck auf die Ressourcen erhöhten und damit als eigentliche Katalysatoren für Regulierungsprozesse wirkten, waren die verstärkte Exportorientierung der Landwirtschaft seit dem Spätmittelalter und das im 16. Jahrhundert verstärkt einsetzende Bevölkerungswachstum. In der Ostschweiz führte die Intensivierung der Viehwirtschaft zu einem erhöhten Bedarf an Weideflächen und damit zu Interessekonflikten zwischen verschiedenen Korporationen, was die Festlegung von Grenzen und die Entstehung erster Alpsatzungen nötig machte (Stefan Sonderegger). Um die Ressourcen in Zeiten des Bevölkerungswachstums vor Übernutzung zu schützen, wurde auch der Ressourcenzugang im Innern der Nutzungsverbände immer stärker reguliert. Anne-Lise Head-König beschreibt verschiedene im Alpenraum angewandte Regulierungssysteme, die zumeist mit dem Ausschluss gewisser sozialer Gruppen von der Nutzung einhergingen und damit ökonomische Ungleichheiten vertieften. Die Einbindung einer Region in überregionale Handelsnetzwerke konnte ähnliche Effekte zeitigen: So gelang es einzelnen Familien in den italienischen Ostalpen, die Kontrolle über einen Teil der Waldressourcen zu erlangen und durch ihre Beteiligung am Holzhandel mit Venedig eine Vorrangstellung in ihren Dörfern einzunehmen (Giacomo Bonan, Claudio Lorenzini).

Schliesslich geht aus zahlreichen Beiträgen hervor, dass die jüngere Geschichte der Commons-Institutionen massgeblich von der Entstehung des demokratisch verfassten Nationalstaats und der Modernisierung der Landwirtschaft geprägt war. Agrarmodernisierung und aufklärerisches Gleichheitsdenken übten einen starken Legitimierungsdruck auf die Commons-Institutionen aus, was vielerorts und insbesondere im Flachland zur Privatisierung kollektiv genutzter Flächen führte. Diesen Prozess zeichnet Elisabeth Johann für die Nationalparkregion Hohe Tauern in Oberkärnten nach. Die dortigen Nutzungsverbände erfuhren durch die Ablösung von Feudallasten und Servituten sowie mehrere die Gemeindeorganisation betreffende Reformen im 19. Jahrhundert eine tiefgreifende Umgestaltung, im Zuge derer viel Land privatisiert wurde. Die Entwicklung in der Schweiz war gemäss den Autoren Rahel Wunderli, Karina Liechti, Martin Stuber und François-Xavier Viallon davon geprägt, dass die staatlichen Behörden die Kollektivkörperschaften und ihre Aufgaben anerkannten und diese mittels verschiedener Strategien in das staatliche Behördenarrangement integrierten. Wichtige Initianten und Vermittler einer staatlichen Forst- und Alppolitik stellten Vereine wie der Schweizerische Forstverein oder der Schweizerische Alpwirtschaftliche Verein dar. Wie sich das Zusammenspiel von Expertenwissen der Vereinsmitglieder und Erfahrungswissen der Nutzer genau gestaltete, wird im Artikel von Martin Schaffner untersucht. Der Artikel von Sandro Guzzi-Heeb, der dazu anregt, die religiöse Infrastruktur der Tessiner vicinati analog zu Weiden und Wäldern als Kollektivgut zu betrachten und der Artikel von Daniel Schläppi, der eine Meta-Perspektive auf die Commons-Forschung einnimmt, runden den Hauptteil des Bandes ab. In einem als «Forum» bezeichneten zweiten Teil schliessen zwei Artikel an, die sich mit der Bedeutung der Genferseeregion für den Alpentourismus (Jordan Girardin) und mit der Entstehung einer spezifischen Vorstellung von Berglandschaft im 18. und 19. Jahrhundert (Antonio de Rossi) beschäftigen.

Durch die grosse Vielfalt an Regionalstudien, die der Band in sich vereint, wird das von den Herausgebern formulierte Ziel, die Existenzbedingungen und Adaptationsprozesse alpiner Korporationen bis in die Gegenwart zu beleuchten, mehr als erfüllt. Es zeigt sich, dass nicht nur institutionelle Faktoren für deren Langlebigkeit verantwortlich waren, sondern auch externe Faktoren, wie die Agrarpolitik eines Staates oder topographische Merkmale, etwa die hohen und steilen Lagen, die einer Produktivitätssteigerung durch Privatisierung Grenzen setzten. Nicht zuletzt war die zumindest partielle Abwehr von inneren und äusseren Ansprüchen und die Beschränkung ökonomischer Aktivitäten mit kollektiven Ressourcen für deren Fortbestehen unabdingbar. Oder mit anderen Worten: Nachhaltigkeit war nur zulasten von Ökonomie und Partizipation zu erreichen. Die Lektüre ist auf jeden Fall nicht nur für Fachkreise, sondern für ein breites Publikum lohnenswert. Die Artikel verfügen über einen hohen Informationsgehalt sowie eine klare Struktur und warten mit schlüssigen und problemorientierten Analysen auf. Die Zusammenschau von Forschungsarbeiten, die zu einzelnen Regionen geleistet wurden, erlaubt eine Synthese bisheriger Erkenntnisse und eröffnet neue Perspektiven. Dadurch bietet der Band auf knappem Raum einen reichen und faszinierenden Einblick in die Geschichte kollektiver Körperschaften im Alpenraum. Für den Leser entsteht ein lebhaftes Bild der wechselvollen Geschichte alpiner Commons, die trotz ihrer institutionellen Robustheit mehrfach in ihrer Existenz bedroht waren und die auch in der Gegenwart angesichts einer zunehmenden Globalisierung ökonomischer Strukturen vor zahlreichen Herausforderungen stehen.

Anmerkung:
1 Kollektive Weiden und Wälder. Ökonomie, Partizipation, Nachhaltigkeit (Altdorf, 8.–9. Juni 2018).
2 Elinor Ostrom, Governing the Commons. The Evolution of Institutions for Collective Action, Cambridge 1990.
3 Gemeint sind Institutionen, die kollektive Ressourcen (z. B. Weiden und Wälder) besitzen und verwalten. Dafür werden im Folgenden die Begriffe «Korporation», «Kollektivkörperschaft», «Commons-Institution» oder «Nutzungsverband» synonym verwendet.

Zitierweise:
Egloff, Salome: Rezension zu: Head-König, Anne-Lise; Lorenzetti, Luigi; Stuber, Martin; Wunderli, Rahel (Hg.): Kollektive Weiden und Wälder. Ökonomie, Partizipation, Nachhaltigkeit, Zürich 2019. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte 70 (3), 2020, S. 472-474. Online: <https://doi.org/10.24894/2296-6013.00071>.